Der kurze Besuch eines Engels

 

Es war Abend. Nanina saß in ihrem Bett und sah sich ein Märchenbuch an. Das Bett war ein Klappsofa und gehörte Oma. Nanina war vier Wochen lang bei ihr zu Besuch.

 

Eben kam Oma herein und brachte den Schlaftrunk, einen Tee. Nanina nahm den Becher und sagte: „Jetzt kommt Mama bald und holt mich ab.“
“Woher weißt du das denn? Sie hat doch gar nicht angerufen.“

Nanina verstand nicht, warum Oma so komisch fragte.

„Ich weiß es eben“, sagte sie und schien eifrig das Märchenbuch zu betrachten.

Oma hatte ein feines Gespür für das, was wichtig war. „Ich möchte dir gerne eine Geschichte erzählen“, sagte sie. Nanina sah ins Märchenbuch.

„Es war einmal ein Engel“, begann Oma, „der wollte gerne ein Mensch werden. Aber dann wollte er auch wieder nicht. Er wollte so gerne zu den guten Menschen auf der Erde. Dann wollte er wieder nicht. Dann wollte er wieder, dann wieder nicht. Er konnte sich einfach nicht entscheiden.“

„Da ging es ihm ja wie mir manchmal, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll“, sagte Nanina.

„Der Engel fragte andere Engel, was er machen solle. ‚Geh mal zu Besuch. Dann wirst du schon sehen’, sagten die.

Als der nächste Regenbogen kam, ging also der Engel darauf zur Erde. Er ging zu Mama, weil die so nett ist. Es dauerte eine Weile. Es ist nämlich nicht leicht, ein Mensch zu werden. Als er dann endlich ein Mensch war, gefiel es ihm nicht. Er merkte, dass er kein richtiger Mensch werden konnte.“

„Das ist aber schade“, sagte Nanina. „Und Mama?“

„Mama gefiel er. Sie wollte ihn behalten, denn er sah so niedlich aus. Wie ein Engelchen eben. Sie hatte ganz vergessen, dass Besuch nie länger bleibt. Jeder weiß doch, dass Besuch kommt, mal länger mal kürzer bleibt und dann ging er wieder.

Da haben Papa und Mama geweint. Der kleine Engel sagte: ‚Weint doch nicht. Wenn ihr so viel weint, dann kann ich nicht mehr fliegen. Dann sind meine Flügel zu schwer.’ Aber Papa und Mama mussten trotzdem weinen. Und damit du nicht auch weinst, darum bist du hier bei mir, damit ich dir alles erklären kann.“

 

Nanina rührte den Tee.

„Haben sie jetzt aufgehört zu weinen?“, fragte sie dann, und ihre Stimme war ganz klein.

„Ja“, sagte Oma. „Jetzt haben sie verstanden, dass sie für kurze Zeit einen Engel zu Besuch hatten.“

Nanina war ganz still geworden. Sie wunderte sich, woher Oma das alles wusste.

„Bin ich denn kein Engel gewesen?“, fragte sie.

„Nein“, sagte Oma mit ihrer warmen Stimme. „Du bist doch ein Menschenkind. Du gehörst auf die Erde. Aber Engel, weißt du, die kommen und gehen. Sie kommen oft, aber sie können nicht auf der Erde wohnen.“

„Ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast“, sagte Nanina.

Oma wusste nicht so ganz, was sie davon halten sollte. Sie nahm Nanina den Becher ab und legte das Märchenbuch auf den Tisch. Aber gerade, als sie Nanina noch auf den Schoß nehmen wollte, hatte die sich schon in ihre Kissen gekuschelt und war zufrieden eingeschlafen.

Oma schrieb die Engelsgeschichte auf. Als Mama am nächsten Tag kam, um Nanina abzuholen, gab Oma ihr die Geschichte mit. Das war für Mama und Papa ein großer Trost, denn nun mussten sie nicht verstummen und nichts verheimlichen, sondern fanden Worte, um auch mit Nanina über alles reden zu können, was sie bewegte.